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Die Ver-Rückung des Alltäglichen

Prof. Dr. Stephan Berg, 2023, IntendantKunstmuseum Bonn

In seinem Buch der Historia Naturalis erzählt Plinius der Ältere den Schöpfungsmythos der Malerei. Demnach war es die Tochter des Töpfers Butades, die den Schmerz über den Abschied des Geliebten dadurch sublimierte, dass sie seinen Schattenumriss mit einem Kohlestift festhielt und dadurch gewissermaßen das erste Bild schuf. So gesehen wäre Malerei unter strukturellen Gesichtspunkten Ausdruck eines Begehrens, das sich auf etwas Entschwindendes bezieht. Eben diese Dualität findet sich auch im Werk der 1968 in Unna geborenen und seit Langem in Bonn lebenden Künstlerin Stephanie Pech, deren Bilder mit ihren intensiven Farben, hyperrealistisch herausgearbeiteten Motiven und den leuchtenden, meist monochromen Bildgründen eine Präsenz herstellen, der man sich nur schwer entziehen kann. Malerei lebt davon, angeschaut zu werden, hier aber wird das Schauen zum Imperativ. Die Mal-Lust, die sich auf diesen Leinwänden zeigt, entfacht zugleich eine unbedingte Seh-Lust, zwingt uns dazu, das Sehen als einen erotisch-voyeuristischen Akt zu akzeptieren. Zugleich, und darin liegt eine hohe konzeptuelle Qualität dieser Malerei, verweigern diese Bilder jegliche eindeutige Erklärung. Je klarer, eindringlicher und deutlicher sie auf der Oberfläche ihr Potenzial ausspielen, umso mehr entziehen sie sich, werden opak, rätselhaft. Was verbindet ein Bügeleisen mit einem Frosch? Was macht eine Sardine auf einem gekachelten Bord? Wohin will eine übergroße Blütenknospe mit einem merkwürdig verrenkten Körperfragment? Und wie passen in diese vordergründig immer so messerscharf gereinigte, paradoxe Bildwelt aktionistisch verschmierte Körperabdrücke, die direkt aus Yves Kleins Anthropometrie entsprungen sein könnten?

 

Man könnte sagen, Stephanie Pech betreibt ihre Malerei als einen Akt heiß-kalter Bildmagie, mit der die enigmatische Eigenwirklichkeit des Bildes und seine Sehnsucht danach, etwas von der Welt zu erzählen, in einer fragilen Balance gehalten wird. Man muss auf diesen Bildern immer das sehen, was da ist, um zu begreifen, dass es eigentlich um etwas anderes geht. So gesehen erforscht diese Malerei das Unsichtbare im Sichtbaren und verleiht zugleich dem Sichtbaren des Unsichtbaren Gestalt. Das ist immer eine Gratwanderung, die von der Künstlerin noch verschärft wird, indem sie bei ihren Explorationen ebenso mutig wie selbstbewusst auf die Kunstgeschichte – und hier insbesondere auf den Surrealismus und das Genre der Stilllebenmalerei – zurückgreift. Insofern formuliert diese Malerei eine aus dem Prinzip der Collage entwickelte Kombinatorik, die sich nicht nur auf die Motive und ihre Malweise, sondern ebenso auf eine Neuinterpretation kunstgeschichtlicher Stile und Genres bezieht.

Gut zeigen lässt sich dies an der großformatigen Arbeit Daffodil aus dem Jahre 2020. Vor einem dunklen blaugrünen, gestisch leicht bewegten Hintergrund breitet die Malerin eine Palette an unterschiedlichen Motiven und malerischen Formulierungen aus: Die unterste Ebene bildet dabei ein diagonal durch das Bild stürzender weißlicher, verwischter Körperabdruck. Parallel dazu erscheint, mit noch geschlossener Blüte, die titelgebende Narzisse in hyperrealistischer Ausführung. Das dritte, ebenfalls bilddiagonal angelegte Element ist ein vertrocknetes sichelförmiges Blatt, das Pech nahezu abstrakt mit einem frechen Roséschimmer anlegt. Über dieser heterogenen Dreiergruppe mäandern eine gelbe, kabelartige Form, die im unteren Bildteil in einen zerfaserten Pinselstrich ausfranst, und eine leicht rosige Zickzacklinie, die wahlweise als reine Lineatur oder als Grashalm interpretiert werden könnte.

Was wir hier sehen, ist ein surreal aufgeladenes Stillleben, das gleichzeitig die klassische Stilllebentradition schon allein dadurch unterläuft, dass es eine glaubwürdige räumliche Einbettung seiner Motive vollkommen verweigert und durch den Körperabdruck zugleich den Menschen, wenn auch ex negativo, in die Komposition miteinbezieht. Die kompositorische Schlüssigkeit des Bildes resultiert vor allem aus der diagonalen Anlage der drei Hauptmotive des Gemäldes und verdankt sich damit einer Kompositionsregel, die seit der Renaissance vor allem in der Malerei ihre Anwendung findet. Diesen Rückgriff auf die klassische Bildtradition kontert Pech aber sofort wieder durch die souveräne Unbekümmertheit, mit der sie in ihrem Bild komplett unterschiedliche Mal- und Bildhaltungen in Form von Farbabklatsch, Hyperrealismus, kühler Abstraktion und gestisch bewegter Farbfeldmalerei aufeinanderprallen lässt. Das gilt auch für die neuen mittelformatigen Werke: Auf Wild Thinking (2021) läuft ein an ein Metallrohr angeschlossener Schlauch, der mittels Frottage körperliches Volumen gewinnt, durch einen orangerot glühenden Körperabdruck. Zudem wird das blaurote abstrakte Streifenmuster im oberen Bildteil von einem dunkelblauen Hintergrund abgelöst, durch den ein aufgespraytes Gitterraster leuchtet. Dazwischen und darüber entfalten sich geschlossene und offene Blüten in realistischer Maltechnik.

 

Fast immer treffen in dieser Bildwelt nicht nur eine Fülle unterschiedlicher Malhaltungen aufeinander, sondern auch die Ebenen des Künstlichen und des Natürlichen. Dabei geht es weniger um eine Konfrontation als um eine dialektische Bewegung, in deren Verlauf die Kabel, die sich durch die Bilder schlängeln, ihren technisch-industriellen Charakter nahezu verlieren, während der porentiefe Realismus der Blüten und Pflanzen in seiner kristallinen Härte beinahe virtuell erscheint und damit auch die Inszenierungsmittel einer digitalen Bildsprache reflektiert. Dazu trägt auch das rasante Experimentieren mit Perspektiven und Größenverhältnissen bei, in dem Kleines so weit vergrößert wird, bis es eine latent unheimliche Befremdlichkeit ausstrahlt, und die Art und Weise, wie die Dinge auf dem Bildplan arrangiert werden, den Eindruck erweckt, man könnte sie, wie auf einem Screen, jederzeit verschieben.

 

Wie stark das Werk von Stephanie Pech – neben der malerischen Neugier auf die Erzeugung einer nie eindeutig auflösbaren, rein malerischen Wirklichkeit – von bildanalytischen Überlegungen bestimmt ist, zeigt nicht zuletzt eine Reihe von Mittelformatarbeiten, die in den Jahren 2021/22 entstanden sind. So enthält beispielsweise auf Tira mi su (2021) selbst ein weiteres himmelblaues Bildfeld mit einer weißen gesprayten Schleife, das vehement darauf hinweist, dass jedes Bild selbst immer nur ein Bild anderer Bilder ist. Auf You may say I’m a dreamer (2021) ist das zusätzliche Bildfeld farblich und kompositorisch stärker in den Gesamtzusammenhang integriert, überrascht aber damit, dass einzelne breite Pinselspuren über den Rand des Binnenbilds reichen und so die Verwirrung über die verschiedenen Ebenen der malerischen Illusion noch steigern. Auf Purple Dignity (2022) konfrontiert uns Pech stattdessen mit der nackten, unbehandelten Leinwand und lässt ihre Blütenmotive wie Akteure auftreten, die, scheinbar wild auf dem Geviert verteilt, dieses in Wirklichkeit perfekt ausbalancieren, gleichzeitig aber auch auf die Labilität dieses kompositorischen Gleichgewichts hinzuweisen scheinen.

Die dunkelbraunen Anthropometrien haben innerhalb dieses virtuosen Vexierspiels die Aufgabe, das Bild zu erden. So wie der Index im Bereich der Fotografie verweisen sie als materielle Spur auf die reale Verknüpfung zwischen Bild und Körper. Ihre rohe, abstrakt wirkende Gestik steht dabei in größtmöglichem Kontrast zu dem fein ziselierten Verismus der Blüten. Während diese scheinbar von Wirklichkeit reden, erfüllt sich dieser Anspruch in Wahrheit gerade in den Körperabdrücken.

 

Eines der wichtigsten neuen Bilder gelingt Stephanie Pech mit Skinwalker (2022). Vor einem strahlend hellblauen, komplett virtuell wirkenden Farbgrund schwebt, von tentakelartigen Kabeln gehalten, eine merkwürdige Hybridform aus blauem Körperabdruck und einer aufgeschnittenen Paprikaschote, deren Kerne teilweise aus ihr herausquellen. Der blaue Körperabdruck, den Pech noch malerisch ergänzt, indem sie dem rechten Fuß realistische Zehen hinzufügt, verschmilzt mit der glänzenden orange-gelb-grünlichen Fleischigkeit der Paprika zu einer widersprüchlichen Einheit mit einem weiten Bedeutungsspektrum. Da ist zum einen eine unübersehbare sexuelle Konnotation, die in diesem Bild mit dem züngelnden Peperonischwanz der Schote und seinen Samenkernen aufgerufen wird. Wichtiger aber noch ist die zur Ewigkeit gedehnte Äquilibristik, die hier zelebriert wird. Weder sehen wir, woran die Schläuche und Kabel befestigt sind, die diesen Doppelkörper in der Schwebe halten, noch ist ein Ende dieses Zustands abzusehen. Der Existenzmodus des Gemäldes ist vollkommen auf ein ewiges, prekäres Gleichgewicht von Hängen, Schweben und möglichem Fallen ausgerichtet. Und nicht zuletzt zeigt sich in diesem Bild besonders eindrücklich die Fähigkeit Stephanie Pechs, malerische Situationen zu erzeugen, die als präzise erarbeitete Konstrukte einerseits auf das Gemachte des Bildes Bezug nehmen und ihm zugleich eine logisch nicht vermittelbare innere und äußere Glaubwürdigkeit geben. So verweist der Körperbastard, den Pech in Skinwalker anbietet, nicht nur auf die surreale Logik einer Lautréamont’schen zufälligen Koexistenz zwischen Nähmaschine, Regenschirm und Seziertisch, sondern vor allem auf das Auflösen der festen Grenzen zwischen unterschiedlichen Identitäten, Körpern und Realitäten zugunsten einer malerischen Wirklichkeit, die sowohl eine bezwingende Gegenwart wie auch das Künstlich-Ephemere einer Erscheinung in sich trägt. Fest steht: In der souveränen Kombinatorik, die Stephanie Pech entwickelt hat, weist ihre Malerei, in der nichts nur das ist, was es zu sein scheint, weit über den Vanitas-Topos hinaus in die Metaphorik des Unterbewussten. Alles, was wir zu sehen bekommen, sind Kippfiguren, Bilderfallen, die ihre Ver-Rückung des Alltäglichen mit ebenso viel Lust wie Präzision betreiben und uns auf das glatte Eis einer Bildverführung locken, hinter deren Oberfläche eine untergründige Verunsicherung des Sehens lauert.

 

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Stephanie Pech im Osthaus Museum Hagen
 

Dr. Tayfun Belgin, 2023
Direktor Osthaus Museum Hagen

Schwimmende Tiere, abstrakte Gesichter, überdimensionale Pflanzen als Bildakteure, ein Eigelb mitten in einen Teich gesetzt, dazu poetische Titel wie I wandered lonely as a cloud – die Gemälde von Stephanie Pech bieten Ansichten, die wir in unserer realen Welt so kaum wahrnehmen können, auch wenn zu den oben aufgezählten Motiven Alltagsgegenstände wie Kabel, Elektrostecker oder Bügeleisen hinzukommen. Daher lässt sich mit einiger Logik fragen, welchen Charakter diese Bilder haben. Einige scheinen in thematischer Hinsicht Stillleben zu ähneln, andere, die in sich mehr Energie vereinen, wirken vielmehr aktionsgeladen. Fremdes und Bekanntes vereint sich in beeindruckender malerischer Präsenz zu einer symbolischen Einheit. Unsere Sinne werden wachgerüttelt, unsere Wahrnehmung bisweilen hin- und hergeschaukelt, die Sinne kreisen um Gegenstände, die man zwar erkennt, so aber noch nicht gesehen hat. Fragen über Fragen bei nahezu jedem Bild.

 

Es ist davon auszugehen, dass Stephanie Pech diese wirkungsintensiven Bilder absichtlich so inszeniert, dass wir Betrachtenden uns und unsere Wahrnehmung fallweise zu hinterfragen haben. Die Arbeit mit Verfremdung ist ein Leitmotiv der Künstlerin, sie nutzt damit ein Stilmittel, das Bertolt Brecht in den 1930er-Jahren in die Kunst des Theaters einführte. Bereits 1916 hatte der Literaturtheoretiker Viktor Šklovskij (1893–1984) in seinem berühmten Aufsatz mit dem Titel „Kunst als Verfahren“ den Begriff ostranenie (dt. Verfremdung) genannt. Šklovskij war der Meinung, dass jeder Gegenstand aus unserem Alltag nicht mehr in seiner eigentlichen Bedeutung gesehen wird, vielmehr nehmen wir die Dinge, die um uns herum geschehen, in gewissem Sinne automatisiert wahr. Die Kunst hingegen lässt uns diese Dinge wieder wirklich sehen, und um das zu erreichen, müssen sie fremd gemacht werden. Es geht also um eine erkenntnisbezogene Verfremdung, die uns Wahrnehmende dazu bringt, scheinbar Bekanntes nicht einfach wiederzuerkennen, sondern die wirkliche Qualität zu sehen. Das Bild soll exzeptionell wahrgenommen werden, was Sklovskij mit den folgenden Worten beschreibt: „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit  und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.“(1)

 

Die verfremdeten Bildwelten der Stephanie Pech lassen sich in unserer Ausstellung, mit dem Titel Floating Strangers von Bild zu Bild verifizieren. Begeistern kann uns beispielsweise das Bild How much is the fish, auf dem ein Aal eine kniende weibliche Person offenbar nach unten drückt. Als übergewichtiger Schal hängt der Fisch auf ihrem Nacken. Was aber hat die Hand links oben im Bild zu bedeuten? Die ausgebreiteten fünf Finger befinden sich im linken Drittel einer Schattenfläche, von der aus sich im unteren Bereich zwei Ringe in unterschiedlichen Richtungen nach rechts orientieren. Die Hand ist Zeichen – doch für was?

Im Bild Tira mi su (dt. Zieh mich hoch) hingegen schwingt sich eine überdimensionale Narzisse über eine sich nach rechts beugende Frau, deren lange Haare nach unten auf den Boden fallen. Ein kalligrafisches Zeichen in einem bläulichen Quadrat links deutet eine Botschaft an, die unverständlich ist. Der Bildtitel ist uns aus der Gastronomie nicht unbekannt, bezieht er sich doch auf eine italienische Süßspeise. Doch wer soll diese Frau hochziehen? Wieder ein Enigma.

Die Werke von Stephanie Pech sind handwerklich meisterlich ausgeführt. Ihre bildnerische Qualität ist die Voraussetzung dafür, dass Verfremdung überhaupt als Stilmittel eingeführt werden kann. Wir haben es im eigentlichen Sinne auch mit Bildern zu tun, die auf einer Bühne stattfinden, entweder in verschlossen Räumen oder sogar im Wasser – beobachtet von uns aus einer Aquariumsicht. Horizonte sind nicht erkennbar, die Tiefe im Raum wird durch raffinierte Kompositionstechnik realisiert. In Sleepwalker erkennen wir hinter der überdimensionalen Amaryllis körperliche Abdrücke auf der Leinwand, die nicht illusioniert, sondern aus einer tatsächlich stattgefundenen Malaktion entstanden sind, in dem eine mit Farbe bemalte Person sich auf den Bildträger gelegt und sich hin- und her bewegt hat. Dieses Verfahren, nach Yves Klein „Anthropometrie“ genannt, bevorzugt Stephanie Pech unter anderem bei großen Leinwänden. Sie geben ihr die Möglichkeit, nach einer Malaktion, die ein Abstraktum hinterlässt, das eigentliche Motiv daraufzulegen. So entsteht eine Synthese-Malerei, die verwischte Flächen mit den in realistischer Manier erstellten Motiven vereint – ein wesentlicher Beitrag zu einer verfremdeten Bildwelt.

 

Es gilt all jenen Dank zu sagen, die zur Realisierung dieser Ausstellung und des Katalogs beigetragen haben. Ein herzliches Dankeschön gebührt der Künstlerin, die sich der Vorbereitung dieser Ausstellung mit unwiderstehlicher Energie gewidmet hat. Stephan Berg und Dorothée Bauerle-Willert haben zudem zwei kenntnisreiche Texte für den Katalog verfasst, für die ich beiden ebenfalls dankbar bin. Auch diese Ausstellung sowie der Katalog waren ohne Unterstützer und Sponsoren nicht denkbar. Ich danke der Werner Richard – Dr. Carl Dörken Stiftung, Herdecke, dem Kunstverein und der Stadt Offenburg, der Galerie Tammen, Berlin, sowie dem Ministerium Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sehr herzlich für den ideellen und auch finanziellen Support.

„Die Kunst ist das Denken in Bildern“, hat der Philologe Alexander Afanassjewitsch Potebnja (1835–1891) geäußert. Stephanie Pechs Werke sind ein beredter Beweis für diese Erkenntnis.

 

(1) Šklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“, in: Striedter, Jurij (Hrsg.): Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969 (= Texte der Russischen Formalisten, Bd. 1), S. 15.

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Dorothée Bauerle-Willert, 2023

Kunsthistorikerin

Stephanie Pech – Floating Strangers

„Ich war ja einst schon Knabe, Mädchen, Strauch, Vogel und aus dem Meere emportauchender stummer Fisch.“

Empedokles

 

In seinen Fragmenten spricht Empedokles von den „unermüdlichen Augen“(1) – und auch Stephanie Pechs Augen blicken offen und aufnahmebereit in die Welt, lassen sich ein auf den Fluss der Dinge. Mit ihrer prägnanten Aufmerksamkeit für alles Sichtbare, mit ihrer Wachheit sieht und gliedert sie, nimmt auf und modelliert dieses Sichtbare zu neuen unvorhergesehenen Formen. Ihre Malerei lässt Bildfelder entstehen, in denen ein kontinuierliches Gleiten Dinge und Lebewesen, Belebtes und Unbelebtes, Figürliches und Nichtfigürliches aneinanderfügt, ineinander blendet, in eine changierende Liaison, in hybride Neubildungen überführt.

Was wir sehen, ist nicht nur Individuum, sondern Übergang. Die Leinwand wird zu einem Bio-Topos, auf dem sich die Dynamik der Schöpfung partizipierend wiederholt. Formen entstehen und steigen – in aller Pracht und in einer brisanten Schönheit – an die Oberfläche in dieser Bilderwelt. Das Einzelne ist entgrenzt, so wie das Changieren des Tons oder des Lichts. Die Pflanzen, das Seegetier, die Falter, die Zivilisationsfragmente sind zum Greifen nah, und doch entgleiten sie dem fixierenden Blick, indem sie zugleich auf den monochromen oder irisierenden Grund weisen, aus dem sie entstehen. Dabei geht es immer auch um die Eloquenz und die Möglichkeiten der Farbe: Diese können auf den Leinwänden wie Blumen aufblühen und verwelken, explodieren und verglühen, vom Licht zu sich gebracht werden. Zugleich entsteht die Farbe immer durch Interaktion mit der Fläche, der Tiefe, ihrer eigenen Leuchtkraft.

In der verführerischen Dynamik, in der schillernden Ambivalenz dieser Floating Strangers, in der in aller Schönheit lauernden Unheimlichkeit, die diese Bilder bergen, mag die Polysemie des Wortes Pharmakon mitschwingen, das mit Arznei, Zaubertrank, Droge, Heilmittel, Gift, Tinktur, Farbe, Pigment oder Schminke übersetzt werden kann. Malerei und Droge, Gift und Farbe: Dazu passt, dass im Griechischen pharmakon auch Malerei bedeutet, und zwar nicht bezogen auf „die natürliche Farbe, sondern [auf] die künstliche Färbung, den chemischen Farbstoff, der das in den Dingen gegebene Chromatische nachahmt“.(2) Sokrates beispielsweise verwendet das Wort ausdrücklich, um die Farbe zu bezeichnen, die Maler verwenden: Pigmente sind pharmakeia, „die den nachgeahmten Dingen ähneln und aus welchen das Bild besteht“.(3) Auch die Liquidität dieser Bilder, das Spiel mit Gegensätzen, die wie im Fluss ineinander übergehen, unterstützt dieser Assoziation, ist doch das Flüssige das Element des Pharmakon.(4) Zudem gilt: Farbe als Pigment und Farbe als Pharmakon „kann gegen sich verkehrt und verwendet werden. Giftiges, Niederes oder Hässliches verkehrt sich unter dem Pinsel in Schönheit.“(5) In solch einer Gegenspannung operieren auch die Bilder Stephanie Pechs. In der Farbe geschieht Transformation und Opposition.

Wie aber agieren Bilder in der Welt? Wie ist ihre Macht, ihre Wirkkraft zu verstehen? Malerei ist – wie das Pharmakon – alchemistische Verwandlung und Verzauberung, sie bringt Selbstgefälligkeiten und Oppositionen durcheinander, operiert mit Gegensätzen und mit einer unerschöpflichen Gegenwendigkeit ihres Reservoirs. Mit dem Fundus und dem Grund der Bilder geht auch die Malerei von Stephanie Pech eigenwillig und frei um. In ihren Stillleben oder im Anhauch des Stilllebens mit seinem „erregenden, undeutlichen, unendlichen Echo“(6) wird diese Gattung mobilisiert und zur lebendigen Organisation von Figuren, Verschiebungen und Wiederholungen. Die Künstlerin eröffnet einen Schauraum, einen Orbis pictus der Natur- und Fantasiegeschichte. Gesehenes, Ungesehenes, nie Gedachtes, Verruchtheit und Unschuld, Werden oder Verderben, exquisite Farben, wundersame Formen – all dies verbindet sich in ihrer Malerei. Das Verlockende und Verzehrende des Stilllebens sowie die Tradition allegorischer Bedeutung werden zugleich angespielt und unterlaufen. Die Wesen und Gebilde schweben, flottieren im Raum, schön und rätselhaft, ganz anschaulich und doch fremd. Immer schwingt etwas anderes mit, dieser beunruhigende Unterton, den Musil wie folgt benennt: „In den wirklichen Stillleben – Dingen, Tieren, Pflanzen, Landschaften und Menschenkörpern, die in den Kreis der Kunst gebannt worden sind – zeigt sich etwas anderes, als sie darstellen, nämlich die geheimnisvolle Dämonie des gemalten Lebens.“(7)

In einer eigenwilligen Volte überführt Stephanie Pech die Gattung des Stilllebens in ein bewegliches, bewegendes Geschehen, in ein Vexierspiel, das eine bildnerische Situation nicht abschließt, sondern eröffnet. Das Paradox des stillgelegten Lebens, der Natura morta, wird so erst richtig eingefangen. Im Sichtbaren tritt man ein in ein bewegtes und bewegliches Ereignis, das wie selbstverständlich diesseits und jenseits der Grenze des Bezeichnens tanzt, ohne auf eine Seite reduzierbar zu sein. In solchen Bildräumen können seltsame Dinge geschehen: Eierstöcke explodieren, Frösche sitzen huckepack unter der Dusche, eine Krabbe thront skulptural in Splendid Isolation, Filetstückchen wirbeln umeinander, Pflanzen, Blumen entfalten sich, prächtig und giftig, Kalmare blicken uns aus ihrem humiden Terrain heraus an, Falter fliegen durch einen dunkelfarbigen Grund zum Licht – Nachtgeflügel, das durchaus an Francisco de Goyas Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer denken lässt. In gewagten Farbakkorden entstehen doppelbödige Traumwelten, deren unterschiedliche Bildebenen und collageartigen subtilen Texturen zu Bildereignissen werden, in denen der Gegenstand und die Farbe, das Sujet und seine Stofflichkeit auf wundersame Weise miteinander agieren und kommunizieren. Meeresgetier, Pflanzen, Früchte, Blumen und allerlei Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs betreten die Bilderbühne, handeln und verhandeln ein untergründiges Geschehen. Die fast verstörende, unheimliche Gegenständlichkeit der Szenerien, die Farbgebung in ihrer opulenten oder unterkühlten Koloristik sind getragen von einem vitalen Elan, von Zärtlichkeit und unterschwelliger Angriffslust zugleich. Stephanie Pechs kalkulierte, exakt ausponderierten Kompositionen sind gebaut aus subtilen Betrachtungen, aus Beobachtungen, die doch über ihre Faktizität hinaus in unauslotbare Räume von Ambivalenzen und Korrespondenzen weisen, so wie jedes Leben, das Gefühl des In-der-Welt-Seins aus ganz unterschiedlichen und unverträglichen Ingredienzen zusammengesetzt und sich selbst oft unbekannt ist.

Abstraktion und Gegenständlichkeit sind hier keine sich ausschließenden Gegensätze, die Grenzen des Entweder-oder werden in der Malerei von Stephanie Pech souverän überschritten. Die wiedererkennbaren, assoziativ besetzten Dinge und Wesen rücken heran und bleiben doch rätselhaft. Organisches und Anorganisches, Natürliches und Technisches, Nähe und Ferne vermählen sich, gehen ineinander über. Doch anders als in den klassischen Stillleben, die oft das Seltene, Exotische neben ganz alltägliche Gegenstände stellen und so eine Begegnung zwischen Vertrautem und Fremdem herstellen, führt Stephanie Pechs Einsatz banaler Wirklichkeitsdetails eher in eine atmosphärische Offenheit. Dazu trägt auch der Bildraum bei, der kein identifizierbarer, sondern ein pulsierender Farbraum ist, in dem die zeichenhaften Dinge treiben. Aller mimetischen Finesse zum Trotz werden die Bildgegenstände so zu einer neuen, ungewohnten Bildwirklichkeit, wobei kühne Aufsichten, Schattenwürfe und Aus- und Anschnitte Spannung und Dramatik bestimmen. In der Gattung des Stilllebens, die Stephanie Pech auf beherzte Weise gegenwartstauglich macht, wird zugleich das immer vertrackte Verhältnis zwischen Kunst und Natur, zwischen Mimesis und Schöpfung reflektiert und offengelegt. Die Künstlerin entfaltet ein Inventar der bildnerischen Möglichkeiten, das nicht auf vorgeschriebene Ordnungen hereinfällt, sondern flexible, wandelbare Vorschläge des Zu-Sehen-Gebens bereithält, die dem Nebeneinander, dem Zugleich, der Simultaneität unterschiedlicher Perspektiven auf die Welt Raum geben. Solche Bilder richten sich auf die Sichtbarmachung einer Potenzialität, auf das noch unbekannte Residuum anderer Möglichkeiten. Kunst lässt etwas noch nie Dagewesenes in Erscheinung treten. Bevor es das Kunstwerk gibt, gibt es keinen Inhalt, der zum Ausdruck gebracht wird. Und so changieren die Bildräume zwischen Figur und reiner Farbe und ihrem Vermögen, das Energetische, Aleatorische, Auflösende – ein Spiel mit Nuancen – erst zur Anschauung zu bringen. Zwischen lesbaren Sehdaten und ihrer Auflösung, zwischen Umriss und Flächen formt sich eine fragile Einheit, die nie erstarrt. Diese Malerei ist ein Ort, an dem sich die Verwandlungen, die Übersetzungen nicht einfach nur ereignen, vielmehr scheint sie selbst im permanenten Wandel, in steter Metamorphose, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Eine alte Geschichte, die immer noch von Zauber und Bannung, von Illusion und Realität, von Flüchtigkeit, Zeit und Ewigkeit handelt. Stephanie Pechs Malerei baut – ausgreifend und zurückgreifend – vielfältige, unauflösbare Beziehungen zwischen dem Was und dem Wie des Bildes auf, zwischen der unbestimmten Offenheit der Textur aus Farbformen und der in der Figuration sich kristallisierenden Bildlichkeit. Das gilt auch für die Anthropometrien, die den Körper als Pinsel einsetzen und damit Körperlich-Figürliches im Abdruck anwesend halten oder zur Farbwoge entladen.

Jenseits des simplen Gegensatzes von Abstraktion und Figuration werden hier die Mittel der Malerei ausgeleuchtet – auch und gerade in der eigenwilligen Verbindung von Konzept und Flow. Im Spiel und Widerspiel der Gegensätze traditioneller Bildmedien, im Zwischenreich von Gegenstand und Auflösung setzen diese künstlerischen Erkundungen das haltlose Abenteuer der Wahrnehmung ins Licht. Wie im Paradox balancieren die Arbeiten Reduktion und Fülle, Zerstreuung und Konzentration zu einer verdichtenden Reflexion. In der gleichsam ozeanischen Bilderwelt, im Auftauchen der Bilder wird die Beweglichkeit der Kunst von Stephanie Pech zu Fließ- und Grenzfiguren des anschaulichen, des sinnlichen Denkens. Es geht dann auch um die ständige Umformung und „Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt“.(8)

In der Malerei von Stephanie Pech berühren sich Verführung und Schauder. Extreme Bewegung und Statuarik, Tanz und Traum, die Endpunkte des Pendels verbinden sich in ihr. Die Leinwand wird zum Ort einer emotionalen Schwingung, die zu einer Unterminierung der rigiden Opposition von Werk, Auge und Erfahrung führt. Im Stoff als Textur bildet sich die Sphäre eines Zusammenhangs zwischen Assoziation und Vision, öffnen sich Übergänge und Durchgänge zu anderen, latenten Bildern. In solch einem Ineinander der Gegensätze entwickelt sich dann die freie und befreiende Anschauung. Hier erst erwacht ein Möglichkeitssinn, der etwas anderes erspielen kann. So kann die Kunst Gegenbilder zur eindimensionalen Wirklichkeit bieten. Stephanie Pechs Malerei erzählt davon, wie sich der Mensch auf die Welt einlassen, wie er sie formen, wie er sie als berührbar und mobil erfahren kann: eine lustvolle Affiliation und ein Spiel mit Mesalliancen, mit Influence und Influenza. Einfall und Zufall, Entschiedenheit und Freiheit sind in eigenwilliger, schwebender Ambivalenz.

Stephanie Pechs Einbildungen übertragen Energie und Form in die Präsenz der Vorstellungskraft. Und so erinnern ihre Bilder auch daran, dass das deutsche Wort Bild in seiner Wurzel eine Kraft oder ein Wunderzeichen, ein Ins-Licht-Bringen, bedeutet. Und wir dürfen uns wundern, dass es diese Bilder gibt.

 

1 Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 216.

2 Derrida, Jacques: „Platons Pharmazie“, in: Ders.: Dissemination, Wien 1995, S. 145.

3 Leonhard, Karin: Bildfelder. Stilleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013, S. 181.

4 Vgl. Derrida 1995 (wie Anm. 2), S. 171.

5 Leonhard 2013 (wie Anm. 3), S. 247.

6 Musil, Robert: Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1972, S. 1230.

7 Ebd.

8 Musil, Robert: „Skizze der Erkenntnis des Dichters“, in: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. 8, S. 1152.

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